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Ein weiteres Dorf in der Moldau stirbt.

Seit Jahren bemerken wir die kontinuierliche Entvölkerung ländlicher Gebiete in der Moldau. Streng genommen besteht die Republik nur noch aus der Hauptstadt Chisinau, da nur dort sich wirklich noch reges Leben erkennen lässt und eine Konzentration sowohl wirtschaftlicher, politischer sowie kultureller Aktivitäten anzutreffen ist. Als Fremder gewinnt man den Eindruck, diesem Lande geht es gar nicht so schlecht. Es gibt alles zu kaufen und auch neueste modische Accessoires sind an der Tagesordnung.

Wer jedoch gelernt hat hinter die Kulissen zu schauen oder sich gar, wenn auch nur wenig über die Stadtgrenzen hinaus, in die ländlichen Gebiete bewegt, wird schnell eines besseren belehrt. Hunger, Wassernotstand, mangelnde Energielieferungen und mangelnde Hygiene sind an der Tagesordnung und führen zur Landflucht hinein in die wenigen vorhandenen Städte, insbesondere ins westeuropäische Ausland aber auch nach Russland, wo es, wenn auch oft unter den unwürdigsten Bedingungen, so doch immer noch Arbeit zu finden und etwas zu verdienen ist.

Durch unsere Tätigkeit der humanitären Hilfe haben wir naturgemäß immer einen Zugang zu sozial Schwächeren. Was sich hier jedoch abzeichnet ist eine Katastrophe für den Bestand des Landes Republik Moldau und scheint wohl in der Tragweite von der dortigen Regierung noch nicht erkannt worden zu sein. Wie sonst sind die Blockaden auf vielfachen Gebieten für die Einfuhr humanitärer Hilfe zu verstehen. Zu Zeiten als die Moldau noch Sowjetrepublik war, waren die dörflichen Gebiete zwar arm, jedoch blühende Landschaften. Es gab Arbeit, deren Lohn erlaubte ein bescheidenes Leben zu führen. Niemand verhungerte und auch die medizinische Grundversorgung war einigermaßen gesichert. Mit der Freiheit insbesondere der der Meinungsäußerung dagegen, war es nicht so weit her. Mit der politischen Selbstständigkeit der Moldau und damit auch einem größeren Maß an Freiheit änderte sich vieles. Heute ist erkennbar, vielfach auch zum Nachteil der Menschen, dass die gewonnene Freiheit erarbeitet, ja schwer erworben werden muss und ein langwieriger Prozess ist. Heute sind in der Moldau Dörfer zu finden, bei denen man den Eindruck gewinnt, als ob der tschetschenische Krieg über sie hinweggefegt wäre.

Für mich besonders eindrucksvoll war im März dieses Jahres, dass ich außer manchen Scharen krächzender Raben, keine Singvögel mehr sah, geschweige denn hörte. Viele Häuser sind verlassen und dem Verfall preisgegeben, die Menschen verschwunden. Überwiegend ganz alte Menschen, meist Frauen und kleine Kinder, sowie behinderte Personen sind zu finden. Elektrizität oder Gas wird nur noch in einigen Gebäuden und auch dort nur noch zu gewissen Zeiten angetroffen, was mit der Bezahlung zu tun hat. Arbeit gibt es keine mehr. Für unser Vorstellungsvermögen spielen sich Schreckensszenarien ab. Unsere Mitarbeiterin Marina wagt sich teilweise nur noch in männlicher Begleitung in diese Dörfer, um dort mit Kleidungs- und Nahrungsmittelhilfe in unserem Auftrag tätig zu werden. Die psychische Belastung ist enorm. Selbst ich, der ich aufgrund meiner sehr langjährigen Tätigkeit harten Tobak gewohnt bin, schrecke oft nachts schweißgebadet auf oder schlafe nur kurze Zeit, um mich dann wieder gedanklich mit Möglichkeiten der Abhilfe der Not zu beschäftigen. Ich jedoch habe die Möglichkeit, mich immer wieder in gesichertes Gebiet zurück zu ziehen, unsere Mitarbeiter nicht. Das macht mir oft Sorgen. Marina hat mir einen Brief geschrieben, den ich Ihnen liebe Leser auszugsweise zur Kenntnis bringen möchte.

Von Marina

es ist Samstag der 09. Februar 2008. Um 7.30 Uhr fahre ich mit Ion Zubcu in Richtung Berezloci, in den moldauischen Bezirk Orhei. Wir haben eine Liste mit wenigstens 20 Familien von einem Bürgermeister mit der Bitte um Hilfe bekommen, die in dieser Ortschaft noch leben sollen und sozial am Ende sind. Ich bin sehr aufgeregt. Während der Hinfahrt in dieses Dorf ist unser Fahrzeug voll von Lebensmitteln. Wir schweigen beide und sind bedrückt. Viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Wohin kommen wir diesmal? Was ist dort wohl passiert? Ion unterbricht meine Gedanken mit dem Ausruf, das ist ja unglaublich! Ich werde wach aus meinen Gedanken, schaue mich um und sage leise, ja, das ist schrecklich!

Wir sind praktisch im Ortszentrum angelangt und stehen vor dem Bürgermeisteramt, bei dem wir uns mit der Sekretärin um 9:00 Uhr verabredet haben. Uns bleiben bis dahin noch 15 Minuten. Alles was wir sehen schockiert uns. Gegenüber ist das Gebäude des ehemaligen großen Kindergartens. Wir erkennen es daran, dass noch einige Reste von Spielplätzen und maroden Spielgeräten zu sehen sind. Sonst nichts! Keine Spur mehr von Türen oder Fenstern, auch das Dach ist ziemlich kaputt. Ringsum herrscht Chaos, kein Kind ist zu sehen oder zu hören. Es herrscht Totenstille, eine bedrückende Ruhe macht sich breit. Bei der weiteren Betrachtung der Häuser fällt mir auf, dass deren Dächer überwiegend fehlen. Man hat die Häuser, deren Einwohner das Dorf verlassen haben, geplündert und alles brennbare Material abgeholt, um heizen zu können. Es scheint kein Leben mehr in diesen Häusern zu sein und doch leben dort manchmal noch Menschen. Man merkt es daran, dass die Vorhänge sich bewegen. Ein Rundgang von 15 Minuten hat bei mir den Eindruck hinterlassen, dass hier vor kurzem noch Krieg gewesen ist.

Plötzlich kommt aus einer Senke eine Frau auf uns zu, die leicht hinkt. Es ist die erste Person, die wir in dieser Ortschaft angetroffen haben. Ich war mir sicher, dass es die Sekretärin war, mit der wir uns verabredet hatten. Eilig begann sie mit einem Gespräch und erzählte uns von der Situation des Dorfes. Sie redete ununterbrochen und mir schien es, als ob sie froh sei reden zu dürfen, um sich mal aussprechen zu können. Lange habe ich mir Zeit gelassen um zuzuhören. Sie erzählte der Bürgermeister lebe in der Stadt Orhei. Er sei Kommunist. Ein- bis zweimal käme er im Monat. Um Verwaltungsprobleme kümmere er sich überhaupt nicht.

Auf meine sarkastische Frage, ob hier Krieg gewesen sei hat die Frau schnell geantwortet: “Ja, wir erleben hier Cernobil, die Bürger verlassen das Dorf und gehen dorthin, wo ihre Augen sie bringen auf der Suche nach einem Job, nach einem Stück Brot“. Im Dorf sind noch alte Menschen und Kinder geblieben.

Sie führt uns zu einer Familie die fünf Kinder haben soll. Am Eingang zu deren Hütte liegen einige Zweige die als Brennholz für die Heizung gedacht sind. Es ist alles was für diese baufällige Hütte, welche einem Stall ähnelt, vorhanden ist. Auf meine Frage wo die Eltern sind, antwortet ein Mädchen, Mama ist irgendwo in Russland, Vater sucht irgendwo Holz. Wir treffen nur drei Kinder an. Ein Mädchen, das älteste mit 13 Jahren, erscheint mir suspekt. Es hat einen zu dicken Bauch und macht den Eindruck, als ob es schwanger sei. Ich rede mit den Mädchen, sage ihnen, dass sie schon groß sind und auch hübsch und frage, ob sie schon Freunde haben. Sie verneinen es. Mit der Sekretärin habe ich vereinbart, dass das Mädchen von einer Krankenschwester untersucht werden soll. Als wir in die Hütte kommen und unsere Lebensmittel abgeben, ist dort kalt, die Wände sind feucht und teilweise schimmlig. Alles ist schmutzig und stinkt. Erinnerst Du Dich noch, als wir bei den Kindern Carabat waren? Genau so ist es hier! Es sind keinerlei Waschmittel vorhanden, auch kein Wasser. Ein verrostetes Bett und eine sehr schmutzige Couch sind da, die für die fünf Kinder und den Vater zum schlafen gedacht sind Auf dem Küchentisch liegen noch steinharte Brotreste, in einer Schüssel befindet sich ein undefinierbarer Brei mit einem Löffel. Die Sekretärin redet mit den Kindern und wir lassen die Lebensmittel da, geben den Kindern Schokoladekekse, die sie mit großer Begeisterung in Empfang nehmen. Wir haben alle 20 Familien “durchgemacht“. Viele hatten Angst die Türe zu öffnen. Bei vielen Häusern hatten wir Angst in diese zu gehen, da wir dachten sie stürzen ein. Wir haben den ganzen Tag gebraucht, um alles zu verteilen. Am Abend wollte uns die Sekretärin nicht wegfahren lassen. Doch wir sind dann wieder nach Chisinau gefahren. Ich habe wieder Körperschmerzen bekommen und kann nicht weinen. Du hast gesagt, dass Du am 10. März wieder nach Chisinau kommst, weil ihr in der traumatologischen Klinik mit Dr.Capros und den Kollegen aus Deutschland operieren wollt. Ich freue mich sehr wenn ihr kommt.

An dieser Stelle möchte ich den Brief abbrechen. Er hat mich sehr nachdenklich gemacht, da ich klar sehe, welche Belastung diese in der Winterzeit fast tägliche Art der Arbeit für Marina darstellt.

Ihr Dirk Hartig

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