15 Jahre Zellenhaft ohne Verurteilung

Bei der Verteilung unserer humanitären Hilfe gegen Jahresende 2011 in Edinet, einem Bezirk im Norden der Republik Moldau, haben wir einen besonders bestürzenden Fall entdeckt - einen jungen Mann, der in einem Käfig bei seiner Großmutter dahinvegetiert. Der junge Mann - Valeriu Dolinta - ist 30 Jahre alt. Valeriu hatte von Geburt an eine Schädelverletzung und ein Wirbelsäulentrauma. Er weinte ununterbrochen, schon im Krankenhaus, und musste wohl schreckliche Schmerzen haben. Dies setzte sich auch nach Aussage seiner Oma zu Hause fort. Die Ärzte aus Edinet schickten den Säugling nach Chisinau, wo eine Punktion vorgenommen werden sollte. Hierbei wurde im Rahmen einer eingehenden Untersuchung im Schädel auch Eiter entdeckt. Nach der darauf folgenden Therapie in Edinet blieb das Kind querschnittsgelähmt und geistig völlig verwirrt. Valeriu hat des Öfteren auch aggressive Anfälle. Auf Befragen behaupteten die Ärzte, das Kind hätte unmittelbar nach der Erstdiagnose operiert werden sollen. Es gab später keine Aussichten mehr auf Genesung.

Valerius Vater begann zu trinken, verließ bald darauf die Familie, überließ diese ihrem Schicksal und verschwand aus dem Leben des Kindes. Valeriu blieb mit der Mutter und der Oma zurück. Einige Jahre später, verließ auch die Mutter das Kind, welches von nun an mit seiner Oma in einer Hütte lebte. Die Mutter heiratete einen anderen Mann, der offenbar ebenfalls ein Taugenichts war. Jetzt ist sie wieder zu Hause, da sie sich vom zweiten Mann scheiden ließ. Zusammen mit ihnen wohnt auch Anatoli, Valerius Onkel, der krank ist und eine kleine Invaliditätspension erhält. Die Stärkste unter allen scheint die Oma mit ihren 73 Jahren zu sein.

Über 15 Jahre, die Hälfte seines bisherigen Lebens, ist Valeriu nunmehr eingesperrt und sieht die Welt durch das blaue hölzerne Gitter. Als er klein war, war er für die Umgebung nicht gefährlich, aber mit zunehmendem Alter, war es der Oma unmöglich ihn zu bändigen. So ließ sie diese Zelle anfertigen und hält den Jungen seit Jahren „im Käfig“. Sie erzählt, dass sie „ihr Kind“ über die Maßen liebt. Sie kümmert sich um den Jungen, ernährt ihn, wäscht ihn, spricht mit ihm. Sie hat jahrelang seine Existenz verschwiegen. Kein Sozialarbeiter, keine Verwaltung, auch kein Nachbar oder sonstige Person, hat je von diesem Fall erfahren, da die Oma Angst hatte, Valeriu wird ihr entzogen und in ein Internat für geistig Kranke gebracht. Das wolle sie auf jeden Fall vermeiden, erzählt sie. Als Pro Humanitate mit Hilfe kam, da die Familie auf der Liste der sozial benachteiligten Familien zu finden war, hatte die Frau Angst, dass jemand ihr Geheimnis verraten hatte. Sie war sicher, es wären Leute die das Kind abholen und ins Internat bringen würden. Die Familie lebt auch für moldauische Verhältnisse in sehr ärmlichen Zuständen. Keiner hat einen Arbeitsplatz. Sie leben nur von einer Pension und einer Invaliditätspension. Es ist kalt im Hause. Es gibt wenig Essen, kaum Kleidung und Bettzeug.

In Moldau gibt es in der letzten Zeit Wartelisten für geistig kranke Patienten. Auch in Internaten für behinderte Leute gibt es kaum Platz. Die Sozialbehörden im Bezirk Edinet wurden von diesem Fall informiert, aber sie haben bislang selbst keine Lösung für Valeriu, da sämtliche Einrichtungen dieser Art überfüllt sind.

Wir gewannen den Eindruck, dass man sehr wohl erkannt hat, dass selbst unter diesen Umständen die Verantwortlichen verstanden haben, dass es Valeriu in der derzeitigen Situation wesentlich besser geht als in einem staatlichen Heim, außerdem der Staat sich so Kosten erspart. Klar ist, dass diese Familie dringend Hilfe braucht. Unsere moldauischen Mitarbeiter sind Vertrauenspersonen der Familie geworden und werden als Schutzengel gesehen. Die Familie ist dankbar für alles - Lebensmittel, Waschmittel, Kleidung, Brennholz und insbesondere seelische Zuwendung. Die Oma macht sich aber Sorgen, dass sie, altersbedingt, immer schwächer wird.

Durch diesen Fall wurde erneut offenbar, wie wichtig unser Engagement und unsere ständige persönliche Präsenz in Moldau, insbesondere unter den Ärmsten sind. Ein Gespräch mit der Oma ergab, dass diese sich große Sorgen macht, da sie selbst irgendwann altersbedingt mit ihrem Ableben rechnet.

Ich bin erschüttert über das soziale Elend, welches neben teilweise auch großem Reichtum in Moldau, in den ländlichen Gebieten stets aufs Neue anzutreffen ist.

So gehen wir zu Jahresbeginn 2012, belastet mit einer enormen seelischen Hypothek, wieder an unsere Arbeit. Gebe Gott, dass wir auch weiterhin helfen können und dürfen.

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